Wissenschaft, Lost Tech und Religion

Wissenschaft, Lost Tech und Religion

Wissenschaft, Lost Tech und Religion
Wissenschaft, Lost Tech und Religion

Die menschliche Zivilisation kann auf eine technologische und gesellschaftliche Hochphase zurückblicken, die heute in den meisten Bereichen der besiedelten Galaxie fast schon mythischen Status hat. Terraforming, lebensechte KIs und Kryoschlaf sind heute im unscharfen Randbereich zwischen Geschichte und Legende verschwunden.

Die Relikte des einstigen Reiches bestimmen den Alltag aber nach wie vor: Uralte Sprungschiffe, unfertige Terraformingprojekte und dysfunktionale Orbitalstationen bieten Generationen von Menschen neuen alten Lebensraum. Die Technik der Konföderation versteht heute jedoch kaum noch jemand. Vieles war hochmodern, einiges sogar experimentell – und das Fachpersonal hochspezialisiert. Nach dem großen Zusammenbruch war in vielen Fällen niemand mehr am Leben, der wusste, wie bestimmte Technologien bedient, geschweige gebaut werden konnten.

Aber seit jeher waren die Menschen erfinderisch – und umso mehr, wenn ihr Überleben davon abhing. Mühsam erkämpften sich die Systeme mit der Zeit wieder technologische Standards, die es ihnen ermöglichten, Relikte wie die alten Sprungschiffe zu bedienen und auf ihre grobe Funktionsweise zu schließen. Hier und da wurden Workarounds gebaut, Behelfssysteme angeschraubt und übrig gebliebene Schrauben unter den Teppich gekehrt. Baupläne aus der “alten Zeit” wurden mit Unverständnis, aber umso größerer Ehrfurcht bestaunt, Betriebsanleitungen wurden zu regelrechten Gebetsbüchern, Piktogramme fast schon rituell befolgt. Niemand wusste mehr genau, welchem Zweck die Anweisungen der Vorfahren dienten – aber offensichtlich wussten sie, was sie taten, und so tut man es ihnen bis heute gleich.

Wissen bedeutet überleben. Wer auf Stationen oder Schiffen aufwächst, lebt ständig mit der Gefahr, dass lebenserhaltende Systeme ausfallen oder umherfliegende Objekte im All mit dem eigenen Zuhause kollidieren könnten. Das Wissen darum, wie man im Notfall reagiert und welche grundlegenden Reparaturen durchzuführen sind, beruhigt die Nerven da ungemein. Wissenschaftliche und technische Grundlagen gehören deshalb von klein auf zur Schulbildung.

Aber je älter die Technik, je einsamer die Kolonie und je karger die Ressourcen, desto schwerer lastet die empfundene Hilflosigkeit im Angesicht von Faktoren, an denen man nichts ändern kann. Manchmal ist eine Fehlfunktion zu arg, um sie zu beheben. Manchmal gehen Teile kaputt, die man nicht nachbauen kann, weil man sie nicht versteht. Manchmal strandet man vergessen in den Tiefen des Alls, weil die Sprungberechnung falsch war.

Und in jenen Räumen, in denen die kalte Rationalität keinen Trost mehr bietet, flüchten sich die Menschen in uralte Muster – und beten. Sie beten zu alten und neuen Göttern, zu ihren Vorfahren, zu ihrem Schiff, ihrem Antrieb, sie flehen den Asteroiden auf Kollisionskurs an und versuchen, mit dem Schicksal zu verhandeln. Manchmal funktioniert es – und sie sind voller Dank für welche Entität auch immer sie zuvor angerufen haben. Manchmal funktioniert es nicht – vielleicht haben sie sich nicht als würdig erwiesen?

So jedenfalls entwickelten sich in Kolonien, auf Schiffen und im Herzen der Menschen zahlreiche Glaubensvorstellungen. Nirgendwo herrscht Religionspflicht, es gibt keine institutionalisierten Strömungen und niemand hat auch nur annähernd einen Überblick über die Myriaden an Göttern, Götzen, Bräuche und Traditionen, die sich etabliert haben. Manchmal schickt in Notlagen jeder sein eigenes Stoßgebet zum Himmel; manchmal kommen die Mitglieder einer Gemeinschaft zu einer Art Messe zusammen und bringen Opfer dar, um ein schlimmes Schicksal abzuwenden; manchmal besingen sie das verzweifelte Werkeln ihrer Ingenieure, um eine technische Fehlfunktion mit wissenschaftlichem und göttlichem Beistand zu beheben. Der Übergang zwischen Wissenschaft und Religion zerfließt mit zunehmender Entfernung vom Ursprungssystem. Aber immer liegt all dem dasselbe Muster zugrunde: Wenn es ums Überleben geht, ist jedes Mittel recht.